Only "YES" means yes
Unser gesellschaftlicher Umgang mit sexueller Gewalt ist in hohem Masse widersprüchlich. Einerseits scheint ein öffentlicher Konsens darüber zu bestehen, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person Gewalt ist und angemessen bestraft werden sollte. Andererseits wird, gestützt auf das aktuelle Sexualstrafrecht, immer noch zwischen 'echter' und 'unechter' Vergewaltigung unterschieden.
Die Sozialarbeiterin Agota Lavoyer ist seit Anfang 2018 stellvertretende Leiterin und Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern. Sie war so freundlich und hat eines ihrer interessanten Plädoyers zur Veröffentlichung freigeben.
Vielen Dank dafür!
Der heutige Vergewaltigungstatbestand, also unsere Vorstellung einer ‚echten‘ Vergewaltigung, geht von einem stereotypen Sexualdelikt aus: Der fremde Täter, der das Opfer gewalttätig überfällt und Spuren hinterlässt. Das stereotype Opfer wehrt sich, hat Verletzungsspuren und erstattet umgehend Anzeige. Mit diesem stereotypen Bild wurden wir alle, Frauen wie Männer, sozialisiert, mit diesem sind wir aufgewachsen. Mit diesem leben wir unsere Sexualität.
Zudem gehen wir davon aus, dass ein Opfer von sexueller Gewalt hilflos, unterdrückt und nachhaltig traumatisiert ist. Und wir gehen davon aus, dass Opfer, also 'echte' Opfer, schwache Menschen sind. Denn wenn sie stark wären, dann hätten sie sich gewehrt.
Verhält sich das Opfer nicht so, wie wir das von einem Opfer erwarten würden und ist der Täter ein uns bekannter sympathischer Mann, dann passiert ein gesellschaftlicher Reflex: die Glaubwürdigkeit des Opfers wird sofort in Frage gestellt und die Frage nach seiner Mitschuld aufgeworfen. Für viele Betroffene hat das verheerende Folgen. Sie werden abgewertet und mitverantwortlich gemacht, weil sie sich nicht genügend gegen den Übergriff gewehrt haben.
Es ist nach wie vor ein grosses Stigma, Opfer sexueller Gewalt zu sein. Ein Opfer kann es unserer Gesellschaft eigentlich gar nicht recht machen. Sie soll bitte emotional sein, wenn sie über die Tat erzählt. Aber sie soll bitte nicht ständig darüber reden. Sie soll sofort nach der Tat darüber erzählen, nicht erst Monate oder gar Jahre später - sonst ist es einfach schwierig, ihm zu glauben. Das Opfer soll Anzeige erstatten, weil wer tut das schon nicht, wenn es denn wirklich passiert ist? Und wenn dann einige Monate oder spätestens Jahre vergangen sind: dann bitte, get over it!
Wir haben so fixe Bilder im Kopf, wie ein Opfer sich zu verhalten hat, damit wir ihm das Opfer-sein wirklich abnehmen. Das ist beschämend. Zumal viele von uns vielleicht keine Ahnung haben, wie das ist. Wie das ist, Opfer sexueller Gewalt zu sein. Und doch denken wir, es zu wissen.
Die vermeintlich 'unechte' Vergewaltigung ist aber diejenige sexuelle Gewalt, die eigentlich in aller Munde sein sollte. Denn ein grosser Teil der Opfer erfahren sexuelle Übergriffe, bei denen der Täter oder die Täterin keine Gewalt anwandte. Ihre Fälle sind vor Gericht häufig chancenlos und werden in der Gesellschaft häufig als Kavaliersdelikte oder schlicht "schlechter Sex" abgetan.
Wir müssen verstehen, und das ist ganz wichtig, dass viele Opfer zuerst verunsichert sind, ob das, was sie erlebt haben, wirklich sexuelle Gewalt war. Wenn wir nun denken, dass es in dem Fall vielleicht wirklich gar keine sexuelle Gewalt war, dann irren wir uns. Dass viele Opfer sehr verunsichert sind, ist unsere Schuld. Und es ist unsere Pflicht als Gesellschaft, dem entgegenzuwirken. Denn das, was die meisten Opfer erleben, wird juristisch nicht als sexuelle Gewalt definiert. In einem Land, in dem wir uns gewohnt sind, dass das Gesetz widerspiegelt, was Recht und was Unrecht ist.
Zudem haben in unserer Gesellschaft schlichtweg keine Narrative über Vergewaltigungen ohne Nötigung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der diese Form der sexuellen Gewalt vermeintlich schlicht nicht existent ist. Nicht in Büchern, nicht in Filmen und auch nicht in Erzählungen.
So passiert es dann, dass die Opfer nach einer Vergewaltigung völlig verunsichert sind; weil der Täter oder die Täterin nicht ihrem Bild eines Sexualstraftäters entspricht; weil sie selber nicht ihrem Bild eines typischen Opfers entsprechen; oder weil die Vergewaltigung selber nicht ihrem Bild einer Vergewaltigung entspricht.
Es ist sehr wichtig, dass wir verstehen, dass ob jemand eine Tat als sexuelle Gewalt einordnet oder nicht, keinen Einfluss darauf hat, wie traumatisierend die Tat erlebt wurde und wie nachhaltig deren Folgen sind.
Wir müssen verstehen, dass eine grosse Scham die Betroffenen daran hindert, über die Sexualdelikte zu erzählen. Dabei ist Scham nicht nur ein erniedrigendes Gefühl, Scham ist auch der beste Freund der Täter. Schamgefühle sind sehr eng mit Schuldgefühlen verknüpft. Wir müssen also alles daran setzen, den Opfern keine Mitschuld mehr zuzuschreiben, und sie so etwas von der Scham zu entlasten.
Wir kommen nicht drum herum, die Gesetzesänderung mit einer gesellschaftlichen Debatte zu verknüpfen. Und sobald ein gesellschaftlicher Wandel diesbezüglich in der Schweiz spürbar wird, dann werde vielleicht auch ich eines Tages zu einem neuen Narrativ beitragen. Über diejenigen Sexualdelikte, die ganz und gar nicht unseren stereotypen Bildern entsprechen. Im Gegenteil: die unspektakulär und leise vonstatten gingen. Und trotzdem vielleicht grosses Leid verursacht haben.
Agota Lavoyer
Die Sozialarbeiterin Agota Lavoyer (39) ist seit Anfang 2018 stellvertretende Leiterin und Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern. Sie studierte an der Universität Freiburg und an der ZHAW.
Wenn Sie laufend über die Arbeit von Frau Lavoyer informiert bleiben wollen, so können Sie ihr beispielsweise auf Twitter folgen:
Einige Zitate von Agota Lavoyer zum Nachdenken
"Wenn ich Brandopfer sage, meine ich nicht Brandstifter.
Klar!
Wenn ich Raubopfer sage, meine ich nicht Versicherungsbetrüger.
Klar!
Wenn ich Opfer sexualisierter Gewalt sage, meine ich nicht Kriminelle, die Nichtschuldige falsch beschuldigen.
Ja ABER...!!!"
"Du denkst, du glaubst nicht an Vergewaltigungsmythen? Dann stell dir einen Freund vor, der Sex mit einer Frau hatte, obwohl er wusste, dass sie nicht wollte. Dann stell dir einen Vergewaltiger vor.
Hast du dir den gleichen Mann vorgestellt?"
"Konversation mit Kind (9)
Mama, meine Freunde finden, dass du einen blöden Job hast.
Wieso?
Sie sagen, weil es etwas mit Sex ist. Das sei voll peinlich.
Sag ihnen, es gehe nicht um Sex. Sondern um Gewalt.
Ok."
Lantana
Lantana ist eine nach Opferhilfegesetz (OHG) vom Kanton Bern anerkannte Opferhilfestelle. Die Beratungsstelle Lantana gehört zur Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Die Beratungen sind kostenlos und sämtliche Mitarbeiterinnen unterstehen der Schweigepflicht. Für Beratungstermine ist eine telefonische Anmeldung erforderlich. Die Beratungen sind auch online, telefonisch und anonym möglich.
https://stiftung-gegen-gewalt.ch/wsp/de/fachstellen/lantanabern/
Falls Sie auf der Suche nach vergleichbare Angeboten in anderen Kantonen sind, so kann ich Ihnen folgenden Link empfehlen: https://opferhilfe-schweiz.ch/de/wo-finde-ich-hilfe/
Falls Sie Opfer einer Straftat in irgendeiner Form wurden, so zögern Sie nicht sich Hilfe zu suchen. Insbesondere bei sexueller Gewalt zögern viele, vor allem Frauen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, dies hat zahlreiche Nebenwirkungen: Zum Beispiel ist es unmöglich, eine genaue Statistik über sexuelle Gewalt zu führen. Entsprechend wird die Problematik in der Politik nur sehr zögerlich angegangen, da das Problem zu wenig bekannt ist.
Zuletzt sei noch erwähnt, eine Frau trägt NIE eine Mitschuld an einer Vergewaltigung! Es ist schlicht und einfach unmöglich, dass eine Frau eine Mitschuld tragen kann. Entweder ist eine Frau einverstanden oder sie es nicht. Selbst, wenn eine Frau an einem Samstagabend nackt durch Zürich läuft, rechtfertigt dies keine Vergewaltigung.
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